Obdachlosen ein Gesicht geben

Als wir vorletzten Sonntag durch das sonnige Nürnberg flanierten (Geheimtipp – Nürnberg, was geht ab?) und man spürte, dass die Stadt wieder zu atmen beginnt, stieß ich auf diese Werbung: „Wir geben Obdachlosen ein Gesicht.

Barber Agels

Als sogenannte Barber Angels haben die beiden Damen offenbar Obdachlosen die Haare geschnitten. Sie haben ihnen -nach offizieller Lesart- damit „ein Gesicht gegeben“ und können nun damit rechnen, von Bild der Frau dafür ausgezeichnet zu werden.

Aus einem teils noch unbestimmten Gefühl hat mich diese Werbung befremdet. Am Mittwoch habe ich sie in Nürnberg erneut gesehen. Ich weiß nicht, ob die überflüssige Preisverleihung eines überflüssigen Boulevardblättchens bereits stattgefunden hat. Und auch nicht, wer gewonnen hat. Aber was mich an dieser Werbung stört, das weiß ich jetzt. Es sind drei Dinge.

1. Ausschlachten ist so ein hässliches Wort

Ich muss ein bisschen ausholen: Wie man ganz geschickt den Obersozialen heraushängen lassen kann, hat uns kürzlich Prinz William gelehrt, indem er heimlich Obdachlosenheime besucht hat. Und zwar sowas von heimlich, dass es nun die ganze Welt weiß (Screenshot):

William heimlich

Wer mal in eine gute Suchmaschine „William heimlich Obdachlose“ eingibt, braucht einen ganzen Tag, um die Links alle wegzulesen. Kürzlich habe ich von einem Studenten einen Satz gehört, der ging so:

Ich habe eine Ausbildung zum Rettungssanitäter gemacht, weil sich das später auch gut in meinem Lebenslauf macht und meine Sozialkompetenz unterstreicht.

Nun möchte ich die Hilfsbereitschaft der Menschen an sich nicht kritisieren. Doch es macht eben doch einen Unterschied, ob man seine Sozialkompetenz stärken will (man tuts für sich selbst) oder unterstreichen will (hier kommt die Außenwirkung ins Spiel).

Wir scheinen in Zeiten zu leben, wo es zunehmend neben der lobenswerten, ehrenamtlichen Tat mindestens genauso wichtig ist, die eigene Identität und Außenwirkung mit genau jener moralisch hochstehenden Tat zu ergänzen („ausschlachten“ ist so ein hässliches Wort).

Wenn man’s schon tut, OK, ein Fernsehpreis muss es nicht sein. Aber ein Selfie mit Obdachlosem für Facebook sollte schon drin sein…

2. Gesichter erzählen Geschichten

Betrachten wir nun den eigentlichen Slogan „Obdachlosen ein Gesicht geben“. Da zucke ich gleich zusammen. Vielleicht, weil ich selbst (fast) nie zum Friseur gehe. Habe ich vielleicht gar kein Gesicht? Ist am Ende gar mein Spiegel kaputt? Vermutlich haben die beiden Damen mit dem Slogan gar nichts zu tun, sondern der Spruch ist vielleicht eine catchy Erfindung einer PR-Agentur. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Obdachlosen ein Gesicht geben: Soll das heißen, dass nur der ein Gesicht hat, der eine gestylte Frisur hat? Oh Gott, es gibt Obdachlose ohne systematische Frisur. Doch zum Glück naht die Rettung, in Form zweier geschminkter Damen, die auch noch Profi-Friseusen sind und „Obdachlosen ein Gesicht geben“.

Liebe Damen, trotz ihres ehrenhaften Handelns und ihrer aparten Erscheinung muss ich Ihnen nun leider etwas mitteilen, was Ihnen vielleicht wehtun könnte: Die meisten Obdachlosen haben mehr Gesicht, als Sie beide es haben. Und zwar zusammen. Wenn ich in das Gesicht eines Obdachlosen sehe, dann sehe ich eigentlich immer eine Persönlichkeit, einen unverwechselbaren Charakter. Denn das Leben zeichnet die vielen Brüche, ihre krass unterschiedlichen Lebensgeschichten, den Schmerz und auch die Glücksmomente so unverwechselbar in das Gesicht, dass die Gesichter von (Langzeit-)Obdachlosen eigentlich alle unverwechselbar sind.

Jedes Gesicht erzählt eine andere Geschichte. Sie mögen solche Gesichter hässlich finden. Die meisten Fotografen würden jedenfalls eine Fotoserie von 20 menschlichen Gesichtern tausend mal lieber von Obdachlosen machen, als von Societydamen, die glauben, ihre winzigen gesichtlichen Makel mit Schminke übertünchen zu müssen. Der Grund, warum sich wohl die meisten Fotografen dafür entscheiden würden, ist, weil die Obdachlosen Gesichter haben, die Geschichten erzählen und die Riege von Societyladies sich „nur“ Mühe gibt, gut auszusehen (und sich dabei immer ähnlicher werden). Das ist der Unterschied. Um ein richtiges Gesicht zu haben, meine hochverehrten Damen, reicht es nicht, als krasseste Brüche im Lebenslauf mit dem Auslandssemester in London und der Heirat mit einem Böblinger Orthopäden aufzuwarten.

3. Whitewashing

Der dritte Punkt, der mich an dieser Werbung stört, ist das Whitewashing. Ein Boulevardblatt verteilt Lob für ehrbare Handlungen und präsentiert sich damit als Schutzpatron und Speerspitze von Ethik und Moral. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Prost!

Dieser Artikel ist schon länger geworden als geplant. Und statt hier noch länger vor dem Computer rumzuhocken, möchte ich lieber noch ein bisschen an meinem Gesicht arbeiten.

Pyraser bier

Ein Gesicht, das nicht perfekt ist. Ein Gesicht mit einem mächtigen Zinken, einer selbstverwalteten Frisur und sogar mit einer Narbe. Es ist einfach da. Und ich bin froh, dass es mir niemand geben muss. Prost!

Ein Kommentar zu “Obdachlosen ein Gesicht geben”

  1. ;-))) auch ich habe GsD ein authentisches Gesicht. Bin Weiblich , 51 Jahre alt und habe es mein Leben lang nicht nötig gehabt, meine Lebensspuren mit Schminke zu überspachteln. Ich liebe meine kleine narbe unter der Augenbraue, meine Lachfältchen und die leichte Nasobialfalte. Mein Lebensgefährte sieht das auch so. Wer aus seiner Komfortzone heraus denkt, mit einer Frisur jemandem ein Gesicht zu geben der hat das Leben nicht verstanden.
    Mögen unsere Gesichter weiter authentisch und unsere Frisuren weiter selbst verwaltet sein. Auf das Leben

    die Muddi

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