Hilfe! Das Gestottere diverser Kurznachrichtendienste im Internet hat mein Lesevermögen realer Bücher versaut. Meine Aufmerksamkeitsspanne beim Lesen ist heute nur noch so breit wie das unerträgliche Wiehern eines Lachtränensmileys.
Mein letzter Versuch, eine dicke Schwarte voll bedeutender Schreibkunst zu meistern, war Anna Karenina von Leo Tolstoi. Über 1200 Seiten Weltliteratur. Bis Seite 19 war ich begeistert, ja geradezu euphorisiert. Bis Seite 37 litt ich genüsslich mit, wie geschickt ziehen hier dunkle Wolken auf! Nur langsam und quälend baut sich das Desaster auf. Herrlich!
Doch wo ist Anna Karenina? Wo ist die Hauptfigur? Auf Seite 38 habe ich das Buch weggelegt. Kein Zweifel, das Buch ist großartig. Vermutlich. Man muss eben auch Lust haben, dran zu bleiben. Wer das schafft, darf sich dem gehobenen Bildungsstand zurechnen. Und darf das jedem erzählen, natürlich immer schön indirekt.
1878 – was blieb einem da auch in langen Winternächten anderes übrig, als fette Wälzer zu lesen, Flöte zu spielen oder ein weiteres Kind zu zeugen?
Intakt gebliebene Lehrer
Heute mag ich es eher knapp, ziehe Kurzgeschichten vor und erwarte, dass ein Autor seinen Plot zu kondensieren vermag. Darin mag man eine unabwendbare Entwicklung des digitalen Zeitgeistes sehen. Oder den Beweis für den inneren Zerfall meiner zunehmend beschränkten Kulturfähigkeit. Suchen Sie sich eins aus. Meine Lebenszeit ist jedenfalls begrenzt und ich brauche ja auch noch Zeit dafür, den ganzen selbstbezogenen Schrott zu verarbeiten, den mir Hinz und Kunzine in die Teimlein spucken.
Diese Tage stöberte ich mal wieder durch einen der öffentlichen Bücherschränke. Wie immer gab es viele überflüssige Bücher (was freilich Geschmacksache ist). Ein Buch nahm ich allerdings mit, schlug es zu Hause nach dem Zufallsprinzip auf und stieß direkt auf folgendes Zitat:
Eine der schwierigsten und dringendsten Aufgaben ist, wie wir alle wissen, die Reform des Unterrichts. Denn es fehlt nicht nur an intakt gebliebenen Schulgebäuden, sondern auch an intakt gebliebenen Lehrern.
Ja, freilich brauchen wir heute eine Reform des Unterrichts. Und es fehlt uns auch an intakt gebliebenen Schulgebäuden, soweit nichts Neues. Die Sichtweise aber, dass es auch Lehrer gibt, die im Marsch durch die pädagogisch-technokratische Realität nicht ganz intakt geblieben sind, fand ich sehr amüsant. Lachtränensmiley! Genialer Gedanke!
Hier liegt allerdings ein kleiner Denkfehler meinerseits vor. Das Zitat stammt nämlich nicht aus aktueller Zeit, sondern aus dem Juni 1946. Von einem gewissen Erich Kästner („Zur Enstehungsgeschichte des Lehrers„).
Über so ein Zitat, seinen Huntergrund und seine etwaige Aktualität kann man gut und gerne zehn Minuten nachdenken. Das menschliche Hirn ist ja kein Trichter, der dröge gestopft werden will und hinten kommt dann Bildung raus. Was man liest, will ja auch verarbeitet werden.
Für diesen kleinen Ausflug ins Reich der Erkenntnis reicht meine Aufmerksamkeitsspanne noch dicke aus. Gruß auch an Leo. Ich geh jetzt Flöte spielen.